Predigt: Wir können nicht denken, was wir nicht tun

 

Wir feiern heute inzwischen den 6. Gottesdienst gemeinsam an der Kante, hier an den Orten der Zerstörung. Der große Zuspruch hat uns selbst überrascht – wir dachten, wir versuchen es einfach einmal, vielleicht kommen ja Menschen. Mich selbst erfüllt das immer wieder mit Staunen, Freude und Dankbarkeit. Vor allem auch die Offenheit vieler Menschen zu sehen, doch einmal dazu zu kommen, zu bleiben und zuzuhören, und mit uns ins Gespräch zu kommen.

All dies zeigt uns, dass ganz offenbar das Bedürfnis bei vielen Menschen besteht, politisches Engagement auch in dieser Form zu erfahren, ihr eigenes politisches Engagement auch in dieser Form zu leben.

Für viele ist das eine ganz neue Erfahrung, die in vielfältiger Weise Türen öffnen kann – wie z.B. bei unserem letzten Gottesdienst, als sich die Tür zur L277 öffnete und wir auf diese zerstörte, abgesperrte Straße gingen. Es können sich Räume für Begegnungen öffnen wie hier an der Mahnwache, an der sich unterschiedliche Menschen treffen, kennen lernen und solidarisch miteinander sind. Wir glauben daher, das es an der Zeit ist, einmal innezuhalten und zu reflektieren, was wir hier gemeinsam tun.

Diese Formen, die Erfahrungen sind neu und gleichzeitig sehr alt, sie aktualisiert alte christliche Traditionen, nehmen auf, was im Christentum tief verankert ist: Die Herrschaftskritik. In der Lesung hörten wir die Worte des Propheten Micha, der harsche und deutliche Kritik an die Mächtigen seiner Zeit richtete. Diese Klagen – Anklagen – ziehen sich durch die Prophetenerzählungen und -bücher des Alten Testaments. Sie richteten sich an die Herrscher, die ihre Pflicht nicht erfüllten, Gottes Gesetzen Gültigkeit zu verschaffen: Die Schwachen und Armen zu schützen vor der Profitgier der Oberschicht, Gerechtigkeit gegenüber allen üben. Dabei verstanden sich die Propheten als Mittler, als von Gott selbst berufene Überbringer seiner Worte.

Im neuen Testament wird diese Kritik aktualisiert, sie richtete sich an die Mächtigen dieser Zeit: Die römische Sklavenhalter-Gesellschaft, ihre Kollaborateure und Profiteure, Herrschern, die sich im Kaiserkult selbst vergöttlichten. Jesu Worte und Taten, ja sein Leben war Anklage dagegen, er formulierte, was den Mächtigen tatsächlich zusteht: Allenfalls der Denar, auf dem das jeweilige Abbild ist, die Steuermünze – alles andere ist Gottes, steht unter dem Schutz seiner Gebote, die auf Gerechtigkeit für die gesamte Schöpfung, auf Befreiung und ein Leben in Fülle für alle Menschen beruhen (Mt 22,15–22). Was dem entgegenstand – und steht – verdeutlicht die vielen Belegen im Neuen Testament zum Umgang mit Reichtum: Niemand kann zwei Herren dienen. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon (Mt 6,24). Im Gleichnis ausgedrückt: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt (Mt 19,24).

Auch die frühen Kirchenvätern übten Kritik am Umgang mit den Gütern – die immer Herrschaftskritik ist – und waren der Überzeugung, dass jeder, der mehr hat als er zum Leben braucht und es nicht teilt mit denen, die es benötigen, Diebstahl begeht.

In neuer Form und aktualisiert wird dies in der mittelalterlichen Armutsbewegung. Sie entwickelte sich im 11. Jahrhundert in den italienischen Städten und verbreitete sich schnell in ganz Europa. Sie war Reaktion auf die in den sich entwickelnden Städten aufkommende Geldwirtschaft, und damit der neuen Möglichkeit für wenige, Reichtum anzuhäufen. Die Armutsbewegung wurde von Laien getragen, die gemeinsam lebten, arbeiteten und das, was sie nicht zum Leben brauchten, mit denen teilten, die weniger hatten. Diese Frauen und Männer beanspruchten ihren eigenen Weg, die Nachfolge Christi zu leben – nackt dem nackten Christus folgen – und zu predigen. Franz von Assisi kam aus dieser Bewegung, die mit aller Härte von den Mächtigen und der institutionalisierten Kirche verfolgt wurde. Einzig der Beitritt in einen Orden – es entstanden die sog. Bettelorden, z.B. die Franziskaner, und damit die Unterstellung unter den Papst – konnte vor Kreuzzügen und Inquisition schützen, der viele Menschen zum Opfer fielen. Im Übrigen stammt auch unser heutiger Eigentumsbegriff aus dieser Zeit – er ist erst 800 Jahre alt, aber eine andere Welt zu denken ist für viele heute kaum möglich.

Christliche Herrschaftskritik gibt es auch in jüngerer Zeit, so in der Befreiungstheologie als Reaktion auf die strukturelle Ausbeutung und Gewalt der sog. Länder der dritten Welt durch die erste. Auch in Teilen der institutionalisierten Kirche wird sie fortgeführt, aktuell durch Papst Franziskus, der bereits in seiner ersten Enzyklika Evangelii gaudium sagte: Diese Wirtschaft tötet!

Und auf protestantischer Seite gibt es das – 2004 beschlossene, doch leider kaum bekannte – Bekenntnis von Accra des Reformierten Weltbundes, dem Zusammenschluss der reformierten Kirchen weltweit.

In einem langen Prozess wurde versucht, das neuartige, neoliberale Wirtschafts- und Finanzsystem und seine Auswirkungen zu analysieren und in deutlichen Worten darüber zu urteilen: Diese Ideologie, die von sich behauptet, es gäbe zu ihr keine Alternative, verlangt den Armen und der Schöpfung unendliche Opfer ab und verspricht fälschlicherweise, die Welt durch die Schaffung von Reichtum und Wohlstand retten zu können. Sie tritt mit dem Anspruch auf, alle Lebensbereiche beherrschen zu wollen und verlangt absolute Gefolgschaft, was einem Götzendienst gleichkommt (10). Die Integrität unseres Glaubens steht auf dem Spiel, wenn wir uns gegnüber dem heute geltenden System der neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung ausschweigen oder untätig verhalten (16).

Uns in diese sehr lange Tradition zu stellen ist stärkend – ganz unabhängig von unseren ganz persönlichen religiösen Vorstellungen und Bildern. Wir sind nicht allein, stehen in Gemeinschaft über Raum und Zeit hinweg.

Doch wir hier, werden/können wir den Ansprüchen, die diese Tradition, diese Gemeinschaft an uns stellt überhaupt gerecht werden?

Die ev. Theologin Dorothee Sölle sagte: „Unser religiös begründeter Widerstand ist noch so schwach, so erfahrungsarm, so ungetan, daß wir ihn kaum denken können.“ Und weiter: „Man kann nicht denken, was man nicht tut. (...) " (Sölle, Mysik und Widerstand, S. 21)

Das heißt, erst wenn wir uns ausprobieren im Handeln, können wir neue Erfahrungen sammeln, die wir dann weiterentwickeln können, um wieder einen Schritt weiten zu gehen.

Das heißt, jeder Gottesdienst, den wir hier feiern, ist ein Anfang, öffnet neue Räume, macht Neues denkbar hin auf dem Weg zum Reich Gottes. Denn jeder Gottesdienst hier, an der Kante, ist ein lauter und unmissverständlicher Widerspruch gegen die herrschende Welt(un)ordnung – wie der Theologe Karl Barth es nannte.

Auch unabhängig von seinen Inhalten z.B. dem Inhalt dieser Predigt, dem Inhalt unserer Gebete und Lieder: Dass wir hier, im Angesicht der Zerstörung Gottesdienst feiern, stellt die herrschende Ordnung infrage, ist bereits Widerstand. Denn dieser Ordnung mit Anspruch auf absolute, alternativlose Gültigkeit, dieser Ordnung, die alle Lebensbereiche durchdringt und kein „außen" mehr kennt, setzen wir mit dem Konzept „Gott" das ganz Andere, das Unverfügbare entgegen – oder, um es mit den Autoren des Buches „Empire“ auszudrücken: Widerstand ist ein Akt der Liebe!