„Selig sind die, die für den Frieden arbeiten, denn sie werden Töchter und Söhne Gottes genannt.“ (Mt 5,9)

Liebe Freundinnen und Freunde,

1947 verfasste Wolfgang Borchert als letztes Werk vor seinem Tod den soeben verlesenen Text: „Sag Nein!“, der uns heute zur Zeit des Ukrainekriegs vielleicht als Provokation, jedenfalls aber als Konfrontation begegnet. Provokation und Konfrontation bedeutete und bedeutet auch dieses Kreuz, das von Kriegsheimkehrern in genau demselben Jahr 1947 angefertigt und durch die Gemeinden des Bistums Aachen getragen wurde. Am 14. Mai, also gestern vor 75 Jahren, erreichte es Keyenberg. Auf den Tag genau heute vor 75 Jahren wurde es nach Immerath gebracht, das ja nun nicht mehr existiert.

Es waren Männer, die (freiwilllig oder gezwungen) Soldaten in jenem Krieg gewesen waren, und sie trugen das Kreuz als Zeichen der Buße für das Unrecht, das von Deutschland ausgegangen war. Die Folgen des deutschen Angriffskriegs, die Zerstörung ihrer eigenen Heimat, hatten sie in den Trümmerhaufen der Städte deutlich vor Augen. Vermutlich trugen die meisten auch Bilder von der Zerstörung in sich, die die Deutschen in den überfallenen Ländern angerichtet hatten.

Ob sie auch ausdrücklich die Zerstörung bedachten, die dem jüdischen Volk und jedem einzelnen jüdischen Bürger angetan wurde, habe ich bis jetzt nicht ermitteln können. Ich werde aber weiter nachforschen.

Die „Konfrontation mit der eigenen Schuld“ muss die Täter provozieren! Aber auch für die Opfer kann dieses Kreuz eine Provokation bedeuten: Der französische Bischof Pierre-Marie Théas hatte das Unrecht gegen die Juden angeklagt, das von den deutschen Besatzern (und auch von französischen Gesinnungsgenossen) verübt wurde. Er wurde deshalb 1944 mit anderen aus dem französischen Widerstand interniert. Im Lager kam es oft zu Gesprächen zwischen den Gefangenen, u.a. auch (in Gesellschaft eines Bischofs) über religiöse Themen. Als dabei einmal das Gebot der Feindesliebe zur Sprache kam, hielt ein Mitgefangener die darin enthaltene Provokation nicht aus: Seine Familie war ausgelöscht worden - niemals konnte er vergeben! Théas soll geantwortet haben: „Wir haben keine andere Wahl.“ Auch diese Provokation ist eine der Wurzeln des Aachener Friedenskreuzes (und der Beginn der Friedensbewegung Pax Christi).

Auf die Jahre der Buße folgte die Zeit des Wirtschaftswunders

- - - - und zugleich die Zeit der Wiederbewaffnung

- - - - und zugleich die Zeit der Anpassung der Kirche an Macht und Luxus, im versuchten Rückgriff auf alte Zeiten. In dieser Zeit hing das Kreuz meist unbenutzt in einer Ecke des Aachener Doms. Auch damit konfrontiert uns dieses Kreuz [und ich finde, das darf nicht unerwähnt bleiben]: nämlich mit der Gefahr - und der Realität (!) - , dass die Kirchen, die Kirchenmitglieder ebenso wie die Kirchenleitungen, unkritisch dem globalen Mainstream folgen. Wenn nur jemand den Satz von Papst Franziskus zitiert:„Diese Wirtschaft tötet“, gibt es harschen gesellschaftlichen Widerspruch bis hin zum Polizeieinsatz. Einige von euch haben es ja so erlebt.

Zur Zeit der sog. „Nach“rüstung ergriffen Pax-Christi-Mitglieder die Initiative. In mehreren Jahren wurde das Kreuz durch die Regionen des Bistums getragen. Es konfrontierte die Anhänger des atomaren Gleichgewichts - zu denen auch weite kirchliche Kreise gehörten - mit den Worten des 2. Vatikanischen Konzils: „Der Rüstungswettlauf ist eine der schrecklichsten Wunden der Menschheit, er schädigt unerträglich die Armen“. Ganz in dieser Tradition nennt es der heutige Papst Franziskus „verrückt“, dass die NATO-Staaten sich darauf verständigen, den Rüstungshaushalt auf 2% des Bruttoinlandsproduktes anzuheben. Denn, so sagt der Papst, der Ausbau von Machtblöcken führt nicht zum Frieden.

Damals wuchs die Idee von einem ökumenischen konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Dieses Holzkreuz wurde 1989 zur 1. Europäischen Versammlung nach Basel mitgenommen. Spätestens seitdem ist es fest verbunden mit dem Schutz von Gottes Schöpfung. Erste Ansätze dazu hatte es schon gegeben, als es zum Tagebau Hambach und nach Wackersdorf zur Wiederaufbereitungsanlage getragen wurde. Als der „Kreuzweg für die Schöpfung“ von Gorleben nach Garzweiler letztes Jahr hier seinen Abschluss fand, war es dann auch hier in Lützerath.

Als Friedenskreuz steht es gegen den Klimakrieg. Ich betone: Das Wort „Krieg“ meine ich nicht bildlich, sondern wörtlich, weil der Klimawandel schon jetzt Menschenleben im Süden der Erde vernichtet, weil er schon jetzt Nahrung, Wohnung und Lebensbedingungen zerstört. Gegen die Vernichtung des Regenwaldes zu agieren, kann andernorts zum Beispiel das Leben kosten. Niemand wird später einmal sagen können, davon habe man nichts gewusst.

Die mit diesem Kreuz - oder anderen Tragekreuzen - unterwegs sind, sind gerade wegen des Kreuzes bei manchen Menschen nicht willkommen. Dieses Kreuz erinnert nämlich nicht nur an die Verbrechen, die vom deutschen Volk verübt wurden, sondern es konfrontiert uns als Kreuz auch mit den Verbrechen, die gerade im Namen des Kreuzes verübt wurden. Vom augenfälligen Missbrauch in Kreuzzügen oder Religionskriegen will ich jetzt nicht einmal reden. Jesu Botschaft wurde zur Dienstleistung für koloniale Herrschaft erniedrigt, der Glaube an den Gott der Liebe wurde zur bequemeren Ausbeutung des Menschen ausgenutzt. Seit 2000 Jahren wird das Kreuz auf solche Weise missbraucht und geschändet.

Der Rückblick auf die Geschichte dieses Kreuzes ist auch immer eine Konfrontation mit mir selbst. In den bald 74 Jahren meines Lebens ist es mir immer wieder begegnet mit dem geschnitzten Bild von Anton Wendling. Wenn dieses verletzte, verwundete Gesicht im Schnittpunkt der Balken stellvertretend für alle Verletzten und Verwundeten dieser Erde steht, bin ich unweigerlich mit mir selbst konfrontiert: mit meiner Schwäche, mit meiner Unfähigkeit, mit meinen Grenzen, mit meiner Resignation.

Die Kreuzträger vor 75 Jahren hatten die Zerstörung vor Augen, die sie angerichtet hatten.

Wir haben die totale Zerstörung vor Augen, die uns droht.

Die Tradition dieses Kreuzes fortzusetzen bedeutet, anders zu leben, nämlich:

hoffnungsvoll,

solidarisch und

widerständig.