Predigt

von Julia Hahn

 

 

 

“Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde. Heute wird getan oder auch vertan.”

 

Diesen Kehrvers haben wir zu Beginn des Gottesdienstes gemeinsam gesungen. Er zielt auf die Gegenwart, das Hier und Jetzt ab. Es geht darum, die Zeit, in der wir leben und die wir zur Verfügung haben, zu nutzen.

Dabei müssen wir uns ständig fragen, was denn die Grundlage des Handelns und der damit möglicherweise entstehenden Veränderungen sein kann. Hier gilt es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden.

Von Vergangenheit sprechen wir meistens in Erinnerungen. Erinnerungen an Erlebnisse, Momente, Erfahrungen.

Hier in Lützerath und den umliegenden Dörfern hat Erinnerung einen ganz besonderen Stellenwert. Erinnerungen an ein normales Dorfleben, eine Dorfgemeinschaft und die schmerzliche Erinnerung an den Abriss der L277 und das drohende Plattmachen des gesamten Ortes. Unrecht, das so nicht stehen bleiben darf. Unrecht, das in der Vergangenheit erlebt wurde, in der Gegenwart weiterhin zu spüren ist und welches es in Zukunft zu bekämpfen gilt.

Die schon abgerissenen Dörfer und die Erinnerungen an das Vergangene können uns nun dabei helfen, Kraft zu schöpfen für die Kämpfe der Zukunft.

Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu rekonstruieren, es geht nicht darum, ein Dorf an einen anderen Ort zu verlagern mit der Hoffnung, dass dann einfach alles wieder so wird wie früher.

Es geht nicht bloß um die materielle Bedeutung, nicht bloß um Steine, die nicht mehr aufeinanderliegen, sondern um Menschen, ihre Identität, ihre Beziehungen.

Es geht nicht um Nostalgie und nicht darum zu sagen „Früher war alles besser.“

Dinge verändern sich und die Erinnerung an gute Zeiten und gleichzeitig die Leiderfahrungen, durch die diese Zeiten durchbrochen wurden, können der Aufschrei sein, dass es dieses Leid in Zukunft nicht mehr geben darf. Nicht zuletzt finden wir das immer wieder als ein biblisches Grundmotiv im Christentum: Denken wir dabei zum Beispiel an die Sklaverei des Volkes Israel und dessen Befreiung durch den Auszug aus Ägypten. Sie haben und konnten darauf vertrauen, dass Gott kommen und sie retten wird, wie es die Lesung beschreibt. Und schließlich wird das Volk sich eine neue Zukunft nicht ohne die Erinnerung an diese Leiderfahrungen aufgebaut haben.

Wir brauchen Orte der Erinnerung, ganz im Gegensatz zu abgerissenen Friedhöfen und Kirchen. Erinnerungen dürfen nicht ausgelöscht werden. Denn auch der Tod wird nicht ausgelöscht werden können, sondern es gilt, ihn und somit die Zerstörung und das Leid zu überwinden und an einer neuen Zukunft zu bauen und dabei in den Blick zu nehmen, was durch die Leiderfahrung schon als Keim des Neuen zustande gekommen ist.

Denken wir dabei an die Solidarität der Menschen mit den Dörfern, die vor dem Abriss stehen, die Entstehung der Mahnwache und dass wir uns hier jeden Sonntag zu einem Gottesdienst versammeln.

So können die Erinnerungen und die aktuelle Situation, die Bilder der Bagger, der leeren und abgerissenen Dörfer, zusammengebracht werden mit der Bildwelt, die die Lesung beschreibt. Trotz aller Entmutigungen bleibt damit die Hoffnung und die Motivation des Mitwirkens an der von Gott verheißenen Zukunft, die es nicht aufzugeben gilt und die uns alle miteinander verbindet.

Wir werden gleich gemeinsam zum Grabstein gehen, auf dem steht: memento mori – Sei dir der Sterblichkeit bewusst. Die uns zur Verfügung stehende Zeit ist nicht unendlich. Sterben werden wir alle. Die Erinnerung jedoch und der aus ihr entspringende Handlungsgrund dürfen nicht sterben, genauso wie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ganz wie es die Lesung formuliert:

Jubeln werden die Wüste und das trockene Land, jauchzen wird die Steppe und blühen wie die Lilie. Seid stark, fürchtet euch nicht!

Amen.