„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46)

Predigt

 

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da sein wird.

 

„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

 

So klagte Jesus am Kreuz. Er war gefangen genommen, brutal gefoltert und gedemütigt worden. Er wurde ans Kreuz geschlagen, er hatte den sicheren Tod vor Augen. Kein „gnädiger“ Tod, sondern langsam, voller Schmerz und Leid.

 

Die christliche Tradition verehrt Jesus als Sohn Gottes, der um sein Schicksal wusste – und es freiwillig annahm. Aber selbst er fühlte sich in diesem Moment der größten Qual von Gott verlassen – einsam und hilflos.

 

Um wieviel mehr müssen wir Menschen uns von Gott verlassen fühlen, wenn wir angesichts einer Bedrohung verzweifeln – so wie wir es eingangs im Ps 22 hörten. Ein Mensch sieht sich umringt von Menschen, die ihm Böses wollen – und er hat nicht die Macht, dies zu ändern, es zu verhindern.

 

Heute, an Karfreitag, stehen wir wieder in Lützerath. Ein großer Teil des Dorfes steht nicht mehr, wurde zerstört und in eine Ödnis verwandelt – ebenso wie die angrenzende Landschaft bis hin zur Grubenkante. Dahinter gibt es nur noch das gewaltige Loch. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit standen hier noch Häuser, die große Walnuss und andere Bäume und Pflanzen. Die Bagger von RWE haben aus einem lebendigen Ort und aus fruchtbarer Erde ein gottverlassenes Grauen gemacht – wer Tolkin kennt, denkt direkt an Mordor, das lebensfeindlichen Dunkelland, in dem allein das Böse regiert.

 

Dieses Böse resultiert, bei Tolkin – aber auch in unserer realen Welt, aus der Gier nach Macht, nach Herrschaft – und das bedeutet heute: nach Geld. Um es zu erreichen, sind immer wieder Menschen bereit, alles zu tun. Und sie vergessen – ja, sie verlieren dabei jede Menschlichkeit.

 

Das neutestamentliche Bild für dieses Mordor, für eine gottverlassene Welt, für die Abwesenheit alles Guten, ist Golgatha, die Schädelstätte, auf der die Kreuzigungen stattfanden. An diesem Ort starb Jesus, die Hoffnung der Welt auf Gerechtigkeit für alle – ermordet von seinen Feinden. Nach christlichem Glauben starb Gott – Gott war nicht mehr in der Welt. Und in der Tradition der katholischen Kirche wird daher das Kreuz in der Passionszeit verhüllt.

 

Wenn wir heute, hier in Lützerath, dieses verhüllte Kreuz aufrichten, wollen wir damit zweierlei, auf den ersten Blick vielleicht widersprüchliches deutlich machen. Zum einen die Abwesenheit Gottes in einer von RWE und Konsorten beherrschten Welt. Und damit auch die Abwesenheit einer Idee, die älter ist als das Christentum: der Hoffnung auf eine guten Ordnung, auf Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle Menschen und für die Schöpfung.

 

Und gleichzeitig leiden wir unter dieser Abwesenheit, wir nehmen sie schmerzlich wahr. Das ist es, wenn wir fassungslos vor diesem Ort und anderen Taten der Zerstörung stehen. Wenn wir sie erleben müssen, quält es uns bis hin zu körperlichem Schmerz. Und wenn wir sagen: Das kann doch nicht sein, wie ist so etwas möglich – dann ist es der Ruf des Psalmisten, der Ruf Jesu: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich – warum hast du uns verlassen.

 

Was wir so schmerzlich vermissen, ist das Gute, die Gerechtigkeit, die Idee einer anderen, besseren Welt. Denn gerade in dieser Abwesenheit nehmen wir wahr, wie dringlich wir Gottes bedürfen: In diesem Leiden, in dieser schmerzhaften Erfahrung des abwesenden Gottes, des absconditus, richten wir das Kreuz der Hoffnung wieder auf.

 

Denn diese Welt, die von der Gier nach Macht und Geld, von dem neoliberalen System, regiert wird – diese Welt ist nicht die beste aller Welten. Sie könnte anders sein, und in ihr könnten wir Menschen andere sein: freier, mutiger, schöner – so wie Gott uns träumte. Das schrieb Dorothee Sölle in einem ihrer Gedichte.

 

Jesus, dieser Mensch, war Anführer einer religiös-sozialen Bewegung. Er zeigte die Möglichkeit einer gerechten Welt mit seiner ganzen Existenz auf. Dafür wurde er von den Mächtigen brutal ermordet. Und damit wollten sie auch die Hoffnung auf diese andere Welt zerstören.

 

Das Kreuz, das wir aufgerichtet haben, ist verhüllt mit dem „Hungertuch“ von Misereor. Künstlerisch verfremdet zeigt es das Röntgenbild eines menschliche Fußes, der durch Polizeigewalt gebrochen wurde. Durch die Jahrhunderte wurden Macht und Herrschaft mit Repressionen, mit Gewalt verteidigt. Überall auf der Welt werden Menschen verhaftet, vor Gericht gestellt; werden Menschen verletzt und sogar getötet für den Machterhalt. Und immer ist dabei auch das Ziel, die Hoffnung auf eine gerechte Welt, die Verheißung auf das Heil für die Welt zu zerstören.

 

Doch die Hoffnung – sie war, sie ist, und sie wird sein. Das bedeutet Auferstehung.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unseren Bruder